Der Ursprung von Bewegung liegt in der Energie und nicht, wie oft angenommen, in der Bewegung selbst. Kein Motor läuft ohne Benzin. Oder, wie Newton herausfand, Masse ohne Impuls ist träge.
Übertragen auf Körperbewegung bedeutet diese Erkenntnis, dass wir unsere Beweglichkeit nicht ausschließlich durch Bewegung erhalten können. Zunächst einmal sollte unser Stoffwechsel, also unser Energiegewinn, auf körperlicher, geistiger und seelischer Ebene keinerlei Defizite aufweisen. Körperprogramme sollten sich stets positiv auf den Stoffwechsel auswirken.
Doch was ist im Falle von Spannung zu tun? Wenn eine notwendige Bewegung ausbleibt? Je unausgeglichener die Lage des Stoffwechsels ist, umso aufwendiger gestaltet sich ein Yogaprogramm. Ein Stoffwechsel ohne Defizite benötigt keinerlei aufwendige Zusatzaktionen. Letzteres ist das große Yoga-Ziel.
Es ist leicht nachzuvollziehen, dass es wenig befriedigend ist, zum Beispiel warme Füße nur nach größeren Anstrengungen zu bekommen. In so einem Fall ist der Stoffwechsel latent, und Bewegungen fallen uns schwer. Energieprozesse sollten sich, wie der Atem, in ihrer Leichtigkeit bewegen.
Die wertvollsten Lebensenergien entstehen für uns Menschen nachts und nicht tagsüber, obwohl das eher zu vermuten wäre. Wir nehmen über den Tag hinweg Nahrung zu uns, und diese gibt uns eine Primärenergie. Doch in den Nachtphasen findet ein tiefer Zellstoffwechsel statt, der sehr sensibel ist und völlig ungestört sein möchte. In solchen heilenden Phasen vertieft sich unsere Lebensenergie bis in die Knochen und Nerven. Alle Körperzellen werden optimal versorgt, und gleichzeitig findet eine Entgiftung statt. Diese wiederum ist Grundlage eines durchwärmten, nervenversorgten Körpers, der uns dann den gesamten Tag mit Kraft und Wohlergehen zur Verfügung steht. Dann fallen uns Bewegungen leichter.
Daraus wird deutlich, wie wichtig yogische Verhaltensregeln wie „Yama“ und „Niyama“ sind. Also: erst zur Energie – dann zur Bewegung, so wie es uns Mutter Natur vormacht.
Erst zur Energie, dann zur Bewegung
Kundalini ist völlig unkonditioniert, und ihre größten Feinde heißen Druck und Spannung. Während eines differenzierten Yogaprogramms lässt sich feststellen, wie leicht sich unsere Lebensenergie bewegen lässt. Wirklich erst dann, wenn alle Energieprozesse und Grundlagen, die Kundalini braucht, erfüllt sind, wird sich die unkonditionierte Lebensenergie von selbst bewegen. Sie nimmt Einfluss auf Körper- und Atembewegung, aber gleichzeitig auch auf Nerven, Blutkreislauf und Lymphsystem.
In Indien gilt das Schlafbewusstsein als höchster Bewusstseinszustand, nicht etwa das Tagesbewusstsein. Es erfordert sehr viel Erfahrung und Einsicht, seinen Tag so zu gestalten, dass sich in den Tiefschlafphasen ein optimaler Energiegewinn von selbst einstellen kann, das heißt, völlig unkonditioniert. Das genau macht ein unbeschwertes Leben aus. Entsteht womöglich nachts eine Energiedissonanz, so lässt sich diese mit keinem Programm tagsüber wieder ausgleichen. Die nächste Gelegenheit bietet sich erst wieder in der darauffolgenden Nacht. Diese energiespendenden Verhaltensregeln stehen mit Recht an erster Stelle im Yogasutra des Patanjali.
Dem materiell orientierten Westen sind diese Regeln weitgehend unbekannt, und kaum jemand interessiert sich dafür. Yoga ist zwar heutzutage sehr modern, doch die Art, wie er bei uns praktiziert wird, lässt noch viel zu wünschen übrig. Man pflegt den Konsum, nennt die Mahlzeit am späten Abend Lebensgenuss und erholt sich vom Arbeitsstress mit Freizeitstress. Nebenbei wird dann etwas Yoga konsumiert. Dieses Verhalten gilt in unserer Kultur als normal und wird von fast jedem von uns akzeptiert.
Solange wir uns beschwerdefrei bewegen können, gibt es keine konstruktiven Lernprozesse. Bewegungen werden gerne sportlich und leistungsorientiert ausgeführt, und solange es Spaß macht, ist dagegen nichts einzuwenden. Was dabei allerdings nicht wahrgenommen wird, ist das Entstehen von Spannungen. So lange nicht, bis ein Schmerz uns deutliche Hinweise gibt und Bewegung keine Freude mehr bereitet. Selbst Schmerzzustände werden oft bis zur Unerträglichkeit unterdrückt.
Durch Loslassen zur Leichtigkeit der Bewegung
Jetzt bietet sich ein geeigneter Zeitpunkt, Bewegung verständlicher werden zu lassen. Denn in einem solchen Zustand stellt sich die Frage, wie sich die unbeschwerte vitale Bewegung zurückgewinnen lässt. Der Schmerz wird in der Tat zu unserem wahren Meister, wie B. K. S. Iyengar zu seinen Lebzeiten verkündete.
Wir begeben uns auf die Übungsmatte und wenden alle Künste des Loslassens an, die wir in langjähriger Übungspraxis erlernt haben. Dabei benötigen wir einen durchsetzungsfähigen Beobachter, der in der Lage ist, in den angewandten Bewegungen nicht mehr über seine Grenzen hinauszugehen, keinerlei Druck mehr zu erzeugen und mit der Grundlagenatmung die Schwerkraft zuzulassen. Es geht ausschließlich um die reine Kontraktion und Dehnung. Poweryoga ist hier fehl am Platz.
Auf diese Weise werden schwierige Bereiche wieder mit in die natürliche Bewegung einbezogen. Dies erfordert eine Menge Geduld – doch Yoga war ohnehin nie etwas für Ungeduldige. Die Wirksamkeit dieser Methode ist überzeugend. Der eigene Geist sollte einsehen, dass ein Fortschritt ohne Loslassen nicht möglich ist und dass kein Mittel besser heilen kann als die Selbstheilkraft. Der durch die Bemühungen wiederbelebte Nerv bringt deutliche Entlastung und neue Energie sowohl in die Krisenbereiche als auch in den gesamten Körper. Dadurch entsteht Leichtigkeit in allen Bewegungen.
Das alles ist keine leichte Lektüre. Wenn Entspannung so leicht ginge, wie wir es uns oft wünschen, dann hätten wir alle längst keine Probleme mehr. Es ist extrem aufwendig, Bewegung durch Bewegung zu erhalten. Yoga jedoch führt uns erst zur Energie und dann zur Bewegung. So wie es die Natur uns lehrt.
Wir lernen, uns von dem zu entlasten, was nicht zu unserem Leben gehört, und lassen alles zu, was unser Leben bereichert.