Nur zehn Prozent des Bewusstseins?

So, wie die populäre These kursiert, wir Menschen machten nur von zehn Prozent unseres Gehirns Gebrauch, so existiert auch die Auffassung, wir nutzten nur zehn Prozent unseres Bewusstseins. Doch was ist überhaupt ein Bewusstsein? Diese Meinungen scheinen davon auszugehen, dass ausschließlich der denkende Geist das Bewusstsein definiert, woraus man dann folgert, dass 90 Prozent der intelligenten Gehirnzentren nutzlos bleiben.

Gemäß der Yogaphilosophie beginnt Bewusstsein mit der Wahrnehmung. Der denkende Geist unterliegt sehr schnell Täuschungen, Wünschen, Zurechtlegungen oder Meinungen, die nicht der Wirklichkeit entsprechen und folglich problematisch werden können. Aus diesem Grund wird der denkende Geist, der sich schnell vom Wesentlichen ablenken lässt, durch Yoga zur Ruhe gebracht. Bewusstsein beginnt mit den wahrnehmenden Nerveneinflüssen. Ohne den Einfluss des denkenden Geistes werden zum Beispiel Energiezustände (Atembewegung, Inhalte der Gedanken, Emotion, Reaktion, Energiegewinn) im Körper wahrhaftiger empfunden.

Wahrnehmen, ohne zu werten

Die Wahrnehmung unterscheidet nicht nach positiv oder negativ, da der wahrnehmende Geist die Wertungen des denkenden Geistes erkennt und den kreativen Schöpfungsprozessen nicht ausweicht. Er findet stattdessen neue Nervenverbindungen, die zu einem Ausgleich führen. Dieser Ausgleich gestaltet sich als eine tiefgreifende Rehabilitation. Positive wie negative Eindrücke des Körpers, der Emotionen und der Gedanken ebenso wie sensible Seelenprozesse werden ohne Urteil betrachtet. (Nichts ist wahrhaftiger als der Ausdruck der Seele.) Derartige Fähigkeiten können nicht vom denkenden Geist realisiert werden.

Diese aufbauenden Prozesse – Brahman zugeordnet – erfordern ein hohes Maß an Bewusstsein im Gehirn und natürlich gleichzeitig im gesamten Nervensystem. Wenn wir mit unseren Gedanken Krankheiten heilen könnten, gäbe es mit Sicherheit weniger Kranke. Das Gegenteil ist der Fall. Hier wird klar, wie sehr sich unsere Gedanken materiell auswirken, als Täuschung, Einbildung oder Illusion. Der wahrnehmende Geist hingegen konfrontiert uns mit der Wirklichkeit.

Auf diese Weise bekommen wir die besten Möglichkeiten, mit uns selbst umzugehen und eine Selbstheilung zu erwirken. Es entsteht ein genauer Plan, an dem sich die wahrnehmende Person ausrichtet. Das ist genial! Für diese Regenerierungsprozesse werden jene 90 Prozent unseres Bewusstseins benötigt. Der denkende Geist hat so gut wie keinen Anteil an den sensiblen, aber extrem einflussreichen Nerveneinflüssen.

Der Nebel der Gedanken

Das denkende Gehirn ist mit der Evolution stetig gewachsen, wie ein Muskel, der dauerhaft trainiert worden ist. Die wahrnehmenden Steuerungsdrüsen des Gehirns dagegen haben seit Millionen von Jahren ihre ursprüngliche Größe behalten. Das komplexe Gehirn gleichmäßig mit Sauerstoff zu versorgen, ist eines unserer Ziele, vergleichbar mit der Durchflutung des Kosmos mit Licht.

Sicherlich benötigen wir unsere Gedanken, doch es kommt auf die Klarheit an, mit der sich ein Gedanke verwirklicht. Das höchste Bewusstsein im Yoga richtet sich an das Unterbewusstsein oder Schlafbewusstsein, das nicht durch Täuschungen beeinflusst werden kann. Das ist ein heiliger Zustand, den wir im Laufe des Lebens und durch stetige Übung erreichen können.

Welcher Gewinn liegt darin, wenn wir schwarze Löcher erforschen, während wir nicht einmal imstande sind, unsere Habgier in den Griff zu bekommen? Wobei schwarze Löcher und Habgier durchaus etwas gemeinsam haben, saugt doch beides viel Materie an.

Wenn der denkende Geist zur Ruhe kommt

Sowohl unser somatischer als auch unser psychosomatischer Körper zeigen exakt den Mangel an, der im Unterbewusstsein vorhanden ist und entsprechend zum Ausdruck kommt. Da es wenig sinnvoll ist, über Probleme dieser Art nachzudenken, womöglich noch darüber zu diskutieren, halten wir uns diszipliniert an Patanjalis Sutra: „Yoga Citta Vritti Nirodha“ – Die Disziplin des Yoga reinigt den denkenden Geist, der als Folge zur Ruhe kommen kann. Somit ist der Zugang in die unterbewusste Seinsstruktur geebnet. Der Beobachter bedient sich des Parasympathikus.

Hier schöpft die Wahrnehmung aus der Ruhe neue Energie unkonditionierter Art. Eine Energie, die weder durch Schwitzen noch durch Poweryoga entstehen kann. Die Power erwächst aus der Intelligenz der Entspannungsnerven. Wer das versteht und realisiert, ist sehr fortgeschritten.

Die Heiligen Indiens gelten nicht gerade als erfinderisch, doch sie waren und sind Meister, denen es gelingt, sich von materiellen Zwängen zu befreien. Niemand versteht die Unterscheidung besser als sie: hier der denkende, materiell ausgerichtete Geist, der zehn Prozent unseres Bewusstseins belegt, dort der wahrnehmende, nicht materiell orientierte Geist, der 90 Prozent unseres Bewusstseins in Anspruch nimmt.

Die Verhaltensweisen, die aus den genannten Erkenntnissen erwachsen, regeln wie von selbst die großen Weltprobleme – eine große Vision. Tatsache ist jedoch auch: Nur ein Mensch unter Tausenden beschreitet erfolgreich diesen Weg. Die derzeitigen Weltprobleme können nicht mit Vernunft geregelt werden, denn diese gehört in die Kategorie der Gedanken.

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