Yoga für Menschen mit Bewusstsein
Der Begriff Atem ist uns allen bekannt. Doch kaum jemand kann eine differenzierte Aussage über diesen nervengesteuerten Energieprozess machen. Jeder von uns muss zwangsläufig atmen. Leider reicht das nicht selten gerade einmal zum Überleben. Natürlich kennen wir die physiologischen Zusammenhänge zwischen dem Zwerchfell, der Lunge, dem Sauerstofftransport im Blut und dem letztendlichen Energiegewinn in der Zelle. Doch was unterscheidet den Sauerstoff vom Atem?
Bei Symptomen kommt es zu einem Energieverlust in den spezifischen Bereichen. Die Sauerstoffzufuhr, die Grundlage des Energiegewinns, erfährt in diesem Fall einen Mangel. Diese Vorgänge sollten gerade im Yoga sehr präzise definiert werden.
Was unterscheidet den Sauerstoffgewinn vom Atem? Das ist ein sehr subtiles, unerforschtes Gebiet. Der Sauerstoffgasaustausch in der Lunge lässt sich zwar anatomisch einfach beschreiben, Tatsache allerdings ist auch, dass der Atem die Grundlage darstellt für den heilsamen Transport aller Stoffe, so auch des Sauerstoffs. Was ist das Geheimnisvolle des Atems?
Aufgrund meiner Selbsterkenntnis und auch durch meine Erfahrungen mit den Teilnehmern weiß ich, wie vollkommen unterschiedlich geatmet wird. Außerdem kann ich seit über vierzig Jahren feststellen, wie hilflos Yogaübende oft sind, wenn es um ihren eigenen Atem geht. Selbst diejenigen mit jahrelanger Übung haben Probleme, ihren lebensspendenden Atem, so wie er im Pranayama praktiziert werden sollte, kontinuierlich fortzusetzen. Gleichzeitig wird aber immer wieder bestätigt, dass jeder mit Bewusstsein durchgeführte Atemzug eine besonders angenehme Wirkung erzeugt. Unaufmerksames Atmen dagegen bleibt wirkungslos. Schade also um jeden versäumten Atemzug!
Das Problem eines vernachlässigten Atems liegt an der mangelnden Beobachtungspräsenz. „Jeder Mensch atmet, also kann jeder Mensch Yoga üben“ – so eine Aussage kann nur von jemandem kommen, der wenig Erfahrung hat. Geht es darum, in einer Übung zehn vollständige Atemzüge nahtlos aneinanderzureihen, ist zu beobachten, dass nur wenige Teilnehmer dieses Übungsziel wirklich erreichen. Damit der Sauerstoff erfolgreich im Körper wirken kann, ist es erforderlich, den Atem effizient und über längere Zeit zu bewegen.
Zum Atemkonzept gehören die folgenden Grundlagen:
- Ein ungestörter Beobachter
- Der Ujjayi – Kehlverschlussruheatem
- Das Atemzentrum (total entspanntes Zwerchfell)
- Der Atemraum
- Die Schwerkraft
Fehlt nur eine dieser Grundlagen, kommt es zu einer unausgewogenen Atembewegung, die den Sauerstoff nicht mehr ausreichend bis zu ihren Zielen transportieren kann. Ziele sind unter anderem die Nerven.
Grundlage 1: Ein ungestörter Beobachter
Der erkenntnisreiche Beobachter, die oberste Steuerungsdrüse des komplexen Nervensystems (Hypophyse), verschafft sich einen souveränen Überblick aller im Körper befindlichen Energiezustände. Es sind die Nerven, die unseren Atem bewegen. Stress, Emotionen und ein unruhiger Geist wirken sich sehr hinderlich auf unsere sensible und doch zugleich energiereiche Atembewegung aus. Ausschließlich mit der Präsenz des Beobachters gelingt es, den Atem ohne Eile und Druck (!) kontinuierlich und erfolgreich zu bewegen und sich gegen alle psychomotorischen Hindernisse durchzusetzen.
Energetische, vom Entspannungsnerv (Parasympathikus) selbst kontrollierte Atemzüge bewirken den zuverlässigen Transport des Sauerstoffs bis zu einem Energiegewinn. Mit einer verbesserten Nervenkraft gleichen sich vorhandene Spannungsfelder zufriedenstellend aus.
Grundlage 2: Ujjayi – der Ruheatem
Ujjayi, so heißt im Sanskrit der Ruheatem. Er bildet sich in der Kehle, sobald der Entspannungsnerv aktiv werden kann, wie im wirklichen Schlaf, wobei ein leises Schnarchgeräusch zu hören ist. Auf diese Weise entsteht das dem Ruheatem angepasste Atemtempo. Es wird gebraucht, um den Sauerstoff optimal zu gewinnen.
Der Nervenzustand ist in der Atembewegung enthalten. Üben wir zuwendungsvoll, so ist diese Nervenqualität im Atemraum enthalten. Sind wir genervt oder gestresst, enthält der Raum jene Qualität.
Grundlage 3: Das Atemzentrum
Viele hilfreiche Erkenntnisse lassen sich sehr gut aus den nächtlichen Tiefschlafphasen ableiten. So auch das gefühlte Atemzentrum oder das vollkommen entspannte Zwerchfell. Es bildet sich wie von selbst. Voraussetzung dafür ist, dass es gelingt, die Bauchmuskulatur und die gesamte Körpermuskulatur von Spannung zu befreien, ähnlich wie in den Tiefschlafphasen, nur übernimmt in diesem Fall das Schlafbewusstsein das Kommando. (Im Yoga zählt das Schlafbewusstsein zur höchsten Bewusstseinsform.) Wenn der Entspannungsnerv sich durchsetzen kann, bewegt sich das Zwerchfell völlig unkonditioniert. Das ist das Ziel des Wachbewusstseins.
Unter Spannung zu atmen, gleicht einem Motor, der nur ab und zu Benzin bekommt. Bleibt der Atemmuskel jedoch spannungsfrei, sorgt er für eine gleichbleibende Sauerstoffzufuhr, gleichzeitig optimiert der Ausatem den CO2-Ausstoß (Entsäuerung). Darin liegt die große Herausforderung. Das Zwerchfell ist extrem nervengesteuert und reagiert sehr sensibel auf feinste nervliche Einflüsse. Gestresste Nerven haben nur bedingt eine Chance, effektiv den Atem über längere Zeit bis zu einem Energiegewinn fortzusetzen. Eine solche Form des Atmens ist bedingt und reicht gerade einmal zum Überleben, nicht aber für einen Zustand, in dem die Nerven gut versorgt sind. Bitte überzeugen Sie sich selbst und probieren Sie es aus!
Gelingt es uns, das Atemzentrum im Entspannungsnerv zu bewegen, so überträgt sich der sich wandelnde Nervenzustand auf den komplexen Körper inklusive seiner Schwachstellen. Die nervengesteuerten Faszien der Muskeln lassen sich immer nur kurzfristig durch äußere Einflüsse besänftigen. Bleibt das Bewusstsein konditioniert, unkonzentriert oder abwesend, haben sowohl der Atem und die Faszien als auch der gesamte Körper mit seinen Organen, Hormondrüsen und Nervengeflechten keine Chance auf Besserung. Oft vergeht ein ganzes Leben, bis man zu einer solchen Einsicht kommt.
Nur wenigen gelingt das energetische Atmen wirklich. Zwar wird natürlich immer irgendwie geatmet, doch die Yogapraxis fordert äußerste Disziplin, Zuwendung und Hingabe (Ishvara Pranidhana).
Pranayama wirkt autonom, so dass wir auch ohne Asanas zur Energie gelangen können. Asanas bleiben aber eine gute Vorbereitung auf Pranayama. Üblicherweise beschränkt sich die westliche Yogaszene lediglich auf die Körperübungen. In den Tiefschlafphasen gibt es jedoch keine Körperbewegung mehr. Der pure Nerv besinnt sich auf das Wesentliche. Das Feinstoffliche versorgt das Grobstoffliche. Daraus sollten wir lernen, um unsere Erkenntnisse dann in unsere heilsame Übungspraxis einzubeziehen.
Grundlage 4: Der Atemraum
Der sich bildende Atemraum ist das Resultat des ungestörten Beobachtens. Bleibt der Beobachter präsent, kann sich ein energetisch flexibler Atemraum entfalten. Das Sauerstoffvolumen ist abhängig von der Ausdehnung des Atemraums, diese wiederum wird von der Flexibilität des Rückens und der Zwerchfellkraft bestimmt. Fällt der Beobachter zurück in die Unachtsamkeit, verkürzt sich die Atembewegung erheblich. Jeder von uns hat seinen Atem selbstverantwortlich in der Hand.
Der Raum allgemein bleibt ein Mysterium. Ohne Raum gibt es keine Existenz. Wir erschaffen unseren inneren wie äußeren Raum mit Verantwortung. Am Anfang ist er uns gegeben. Wenn wir ihn erhalten wollen, brauchen wir einen starken Willen, Nervenkraft, Freude und ein kreatives Interesse am Leben.
In dem Atemraum, den wir bewusst öffnen, ist also die entsprechende Nervenkraft, von der wir abhängig sind, enthalten. Enthalten ist aber auch gleichzeitig die Zeit, die ein wirksamer Atem kompromisslos fordert und die wir uns genommen haben, statt sie einfach nur vergehen zu lassen. Ein energetischer Einatemzug bewegt den Sauerstoff nicht nur zu einem spürbaren Gewinn, sondern führt zusätzlich im weiteren Verlauf zu einem Ausatemzug, in dem optimal CO2 ausgeschieden wird.
Grundlage 5: Die Schwerkraft
In direktem Zusammenhang mit dem Atemraum steht auch die lebensnotwendige Schwerkraft. Als eines der mächtigsten Gesetze im Universum wirkt sie im unvorstellbar großen Kosmos mit einer enormen Präzision. Dieses Gesetz gilt ausnahmslos für jede Schöpfung des Kosmos, also auch für uns Menschen. Dennoch kann ein Zustand von Angespanntheit, verursacht durch Stress, Nervosität, Eile, Ängste und viele andere Nervenkiller, der Schwerkraft in gewisser Weise entgegenwirken.
Je mehr wir die Spannung loslassen, desto besser können wir die Schwerkraft zulassen. Fast jeder kennt es: Liegen wir abends entspannt und schläfrig im Bett, fühlen wir eine angenehme Schwere. Dieses Gefühl kann sich nicht einstellen, wenn wir unruhig sind und im Kopf noch Probleme wälzen.
Der bewusste, die Nerven versorgende Atem bringt den Sauerstoff, ohne ihn direkt wieder für aufwendige Emotionalzustände verbrauchen zu müssen, umgehend zu den bedürftigen Nerven zurück. Der Ausatemzug ist der Schwerkraft zuzuordnen. Ein entspannter Ausatemzug gibt optimal CO2, also Säure, ab. Möglich wird dies durch den Entspannungsnerv (Beobachter). Ein vernachlässigter Ausatem jedoch bleibt wirkungslos. Entspannung und Schwerkraft sind das Ergebnis eines tiefen Ausatemzugs. In den Tiefschlafphasen bewegt sich der Atem nach diesen Gesetzen geradezu vorbildlich. Da jedoch immer mehr Menschen an Schlafmangel leiden, bietet Yoga – insbesondere Pranayama – einen exzellenten Ausgleich. Es muss nur konsequent geübt werden.
Energetisches Atmen fordert Konzentration über längere Zeit. Dadurch wird ein erfolgreicher Energiegewinn in den Nerven entstehen. Dank der tiefen Atmung reicht die Qualität dieser Energie weit über die Energiequalität durch Asanas hinaus! Sind die Nerven gut versorgt, könnte als nächste Stufe die Meditation folgen.