Zugegeben, der Alltag eines Yogis ist aus der Sicht der meisten Menschen nicht für alle praktikabel, denn die Lebensgewohnheiten eines Yogalehrers setzen sich deutlich von der Lebensweise ab, wie sie in unserer Gesellschaft als normal gilt. Ein solches normal übliches Leben zu gestalten, ist oft für viele schon herausfordernd genug. Yogis hingegen lieben die Herausforderungen, denn diese führen ihn letztendlich zu besonders wirksamen Resultaten.
Der Tag beginnt morgens mit relativ asketischem Verhalten. Denn ein Frühstück ist sehr hinderlich, wenn ein Körperübungsprogramm kurz bevorsteht. Nahrung im Magen benötigt zur Weiterverarbeitung wertvolles Blut, dieses würde der Vertiefung von Lebensenergien dann nicht mehr ausreichend zur Verfügung stehen. Ein Übungsprogramm kann nur erfolgreich sein, wenn die Nerven mit genug Sauerstoff versorgt werden. Ist diese Versorgung gelungen, sind damit oft täuschende Bedürfnisse losgelassen worden.
Yoga nur mit leerem Magen
Eine Mahlzeit nimmt der Yogi in Ruhe und Gelassenheit mittags zu sich, bestehend aus frischem Gemüse, Obst und Nüssen. Yogis leben in und mit ihrer Lebensenergie. Der Lebensstil richtet sich grundsätzlich nach der Intensität der Kundalini-Kraft aus. Stetiger Kontakt mit Kundalini setzt kontinuierliches Üben voraus. Das praktiziert ein Yogi oder eine Yogini. Mit leerem Magen werden erfolgreiche Programme geübt. Das ist eine der schwierigsten Verhaltensregeln, aber gleichzeitig auch eine der wirkungsvollsten. Die Übungsmatte wird nüchtern betreten.
Ein wirkliches Hungergefühl haben Yogis nur selten. Setzt sich das Blut durch Asanas und Pranayamas in Bewegung, wandelt sich Hunger in wohltuende Energie. Die Versorgungswege sind zugänglich, Spannungen lösen sich. Die Nerven werden besser versorgt, und es entsteht ein Gefühl der Bedürfnislosigkeit. Das bedeutet, unwirkliche Bedürfnisse vergehen, während die wahren entstehen. Der gesamte Lebensstil richtet sich auf diese Weise aus.
Mal eben Kaffee trinken, womöglich noch mit Kuchen, oder unkontrollierte Zwischenmahlzeiten, Getränke ohne Sinn, das alles sind Gewohnheiten, die nicht mehr in Frage kommen. Stattdessen legt der Yogi erholsame Entlastungsphasen ein. Reinigung ist Pflicht. Nur so regeneriert das Immunsystem. Auch die Nerven werden besser versorgt. Letztendlich profitiert der gesamte Organismus.
Verhaltensweisen für die Lebensenergie
Übungsprogramme sind wie Gebete. Mit diesen richtet sich der Yogi an seine höchsten Energiequellen. Für die enormen Wirkungen, die sich alle von uns so dringend wünschen, nimmt der nach Erfüllung Strebende gerne Verhaltensweisen an, die nicht für jeden realisierbar sind. Die lebenslangen Lernprozesse bieten immer wieder neue Herausforderungen.
Ein Yogi oder eine Yogini hat gelernt, sich selbst anzunehmen. Dadurch fallen so einige Zwangsbedürfnisse weg. Reinheit, sowohl innen als auch außen, bestimmt die Unabhängigkeit des nach innerem Glück strebenden Yogis. Charakterzüge haben sich herauskristallisiert wie Diamanten aus den Tiefen eines Bergwerks. Darauf kann man aufbauen, denn mit einem solchen Potenzial lassen sich weitere entscheidende Schritte gehen. Statt Übungsprogramme vor sich herzuschieben, freut sich der Yogi auf die nächsten Chancen für ein neues Samadhi.
In Verantwortung für sich selbst und die Teilnehmer
Ein Yogalehrer geht stets gut vorbereitet in seine nächste Unterrichtsstunde. Durch seine körperliche und geistige Flexibilität ist er immer bereit für Fragen oder Übungen in der Teilnehmerschaft. Ich blicke zurück auf rund 24.500 Unterrichtseinheiten für Gruppen und rund 10.400 Eigenprogramme. Das ergibt zusammen 35.000 Übungsprogramme. Kein einziger Unterricht musste wegen Krankheit ausfallen.
Yogalehrer arbeiten nicht nur an sich selbst. Sie müssen auch mit vielen unterschiedlichen Menschen, Gruppen, Teilnehmerinnen und Teilnehmern umzugehen wissen. Die Verantwortung dafür wächst allein aus der Verantwortung für sich selbst. Teilnehmerinnen sind dankbar für die Hilfe zur Selbsthilfe.
Die größte Schwierigkeit für den Lehrer liegt jedoch in der Unwilligkeit und Uneinsichtigkeit einiger Teilnehmer. Doch der Yogi entwickelt eine endlose Geduld, auch dafür Lösungen zu finden. Die Voraussetzung dafür ist ein starker Wille aufseiten der Schüler. Und dauern die Prozesse auch viele Jahre oder gar Jahrzehnte, eines Tages wird es sich für jeden gelohnt haben. Das kann ich aus meiner Erfahrung mit Yogainteressierten bestätigen.
Loslassen, um Neues zu ermöglichen
Natürlich bleiben wir vergänglich. Und auch das gehört zu den wertvollsten Erkenntnissen auf dem Weg. Vergänglichkeit ist auch Freude. Das Wunder des Loslassens, um Neues zu ermöglichen. Eine Belohnung, die wie nahrhafte Früchte auf dem Baum der Erkenntnis wächst, den wir vor geraumer Zeit einst gepflanzt haben. Die Früchte enthalten Vitamine, die es nirgends zu kaufen gibt, uns aber Kräfte verleihen und uns für die weitere, ungewisse Reise versorgen.
Der Tag des Yogis ist sehr organisiert, immer im Dienste der sich bewegenden Lebensenergie. Abends bereitet der Yogi sich auf die erholsame Nachtphase vor. Der denkende Geist ist zur Ruhe gekommen. Das Schlafhormon bildet sich. In den regenerierenden Tiefschlafphasen finden die wirksamsten Loslassprozesse statt, die es für den Menschen überhaupt gibt. Sechzig bis neunzig Minuten in einer Schlafposition zu verbringen, erfordert totale Entspannung. Es dürfen keine Körperschmerzen entstehen. Körperliche Bewegungen kommen ganz und gar zur Ruhe. Gleichzeitig vertieft sich der Atem in den gesamten Körperraum. Aus diesen das Immunsystem stärkenden Nervenprozessen erkennt der Yogi die Grundlagen für Asana und Pranayama.
Das Unterbewusstsein kann 200.000-mal besser verarbeiten als das Wachbewusstsein. Sind dennoch in der Nacht nicht alle Spannungen gelöst worden, beginnt ein neuer Tag mit neuen Chancen auf Verbesserung. Heilung erfolgt grundsätzlich durch die universelle Kundalini-Energie, nicht aber, wie oft irrtümlich angenommen, durch Chemie, die oft fatale Nebenwirkungen hervorruft.
Das ganze Leben ein Übungsprogramm
Ein erfahrener Yogi verbringt viele glückliche Momente ohne den Einfluss der Vergangenheit. Es bleibt dennoch ein Geheimnis, welche unvorstellbaren Möglichkeiten Yoga bieten kann, wenn es richtig verstanden wird. Um das zu erfahren, ist es erforderlich, gewohnte Verhaltensweisen abzulegen. Dadurch scheint sich der Wandel mit Leichtigkeit zu vollziehen, als hätte es niemals Hindernisse gegeben.
Das ist das Potenzial, mit dem ein Yogalehrer oder eine Yogalehrerin seine bzw. ihre Schüler motiviert. Schüler spüren die Lebenskraft des Lehrers und sind bereit, selbst Schritte in eine energetische Richtung zu unternehmen. Motivation hängt also sehr stark von der Ausstrahlung des Lehrers oder der Lehrerin ab. Es kann immer nur der wahrhaftige innere Zustand ausgestrahlt werden. Jede Täuschung wirkt enttäuschend. Und was das Alter angeht: Yoga macht vor Alter keinen Halt. „Yoga ab 50“ ist damit längst überholt.
Ich werde immer wieder gefragt, wie oft oder wie viel ich an einem Tag übe. Dann antworte ich: 24 Stunden. Jede Handlung, jedes Gespräch, auch Freizeit und Nichtstun, alles ist immer eine Übung im Dienste der Lebensenergie. Und die Nachtphasen bilden da keine Ausnahme. Wer das versteht und praktiziert, zählt zu den Fortgeschrittenen. So zu leben, wie es allgemein üblich ist und als normal gilt, ist nicht möglich, während Yoga praktiziert wird. Mit diesem Thema aber sind Yogapraktizierende längst vertraut, und sie gestalten ihre Existenz völlig unspektakulär inmitten einer yogabedürftigen Gesellschaft.